Pappelnflaum
Vier Stunden vor der Abfahrt gingen Marie und Frank noch zusammen spazieren. Es war ein sehr warmer Aprilnachmittag, sie trugen T-Shirts zu den Leinenhosen. In der Luft schwebte weißer Flaum, wie von verblühtem Löwenzahn, nur waren die Samen kleiner, sie sahen wie zierliche Insekten aus. Ein paar Tage vorher hatten die Bäume auf ähnliche Weise gelbe Pollen verbreitet - noch jetzt lag eine dünne Staubschicht auf den Autos, auf den Dächern, den Abfalleimern und Straßenbänken.
Sie gingen Hand in Hand, sprachen wenig. Marie wusste, dass Frank nervös und unglücklich war, weil sie wegfahren und er zwölf Tage lang ohne sie sein würde.
Er wollte nicht an die Gefahren denken, die während der Reise auf seine Frau warteten, doch das fiel ihm schwer. Er hatte Angst und war aufgeregt - wie immer, wenn etwas seinen gewohnten Tagesablauf aus der Bahn warf.
Marie war dankbar, dass er nach außen hin ruhig und mild gestimmt blieb. Sie redeten über Leute, die sie kannten, über Häuser, an denen sie vorbei gingen, über den Flaum, der durch die Luft flog.
„Von welchen Bäumen kommt das?“ fragte Frank. „Linden?“
„Nein. Linden blühen viel später. Ich glaube, Pappeln.“
Marie wusste selbst nicht, warum ihr gerade Pappeln einfielen, aber es klang irgendwie richtig.
„Ja, das werden sie sein“, sagte er lebhaft und beinahe zufrieden. „Pappeln.“
Sie versuchte, eines der kleinen flauschigen Flöckchen zu fangen, aber ohne Erfolg.
Es war so warm, schon fast wie in Marokko. Er konnte Hitze schlecht vertragen, fühlte sich eingeschränkt, geschwächt. Deshalb reiste er nicht mit in südliche Länder.
Sie liebte die Sonne, die Farben, die Wärme. Doch sie war traurig, weil sie ihren Mann allein lassen würde.
Durch ein Loch in der Hecke erblickte sie eine Wiese in einem etwas vernachlässigten Park. Inmitten stand ein Baum, von dem aus die weißen watteartigen Samen in die Luft schwebten.
„Komm, wir schauen uns das an“, sagte sie und zog ihren Mann durch das Loch in den Park.
Gestern noch waren sie zusammen an der Maas in Belgien gewesen und hatten mehrere große Reihernester gesehen. Mit einem Fernglas beobachteten sie, wie sich in einem Nest vier Jungvögel tummelten. Die langhalsigen Tiere erinnerten sie an gefiederte Schlangen.
In Marokko leben Störche, die aus Europa kommen, dachte sie. In Marokko gibt es Terroranschläge, dachte er, das wusste sie.
„Schau mal, von dort kommt es her“, sagte sie und zeigte auf die Baumblüten, kleine Trauben, von denen sich das weiße Zeug absetzte.
„Was ist das für ein Baum?“ fragte Marie.
"Pappel", sagte Frank. „Eine Silberpappel.“
Der Baum sah nicht wie eine Pappel aus. Aber sie wollten es beide so haben.
(2011)
Das fremde Eiland
Er ist ihr auf der Insel begegnet.
Es war an einem ungewöhnlich warmen Septembernachmittag. Wolfgang wohnte seit einigen Tagen in einem kleinen Hotel, das zwischen dem Strand und dem Dorf lag, zu dem er häufig hin spazierte, um dort einzukaufen. Es herrschte noch Ferienbetrieb, die Luft roch nach gebratenem Fisch und Pommes-Frites, die Spielzeug- und Souvenirläden stellten ihre rosa Gummibälle, weißen Strohhüte und abgepackten Muschelkörbchen direkt auf dem Gehweg aus. Urlauber saßen in den Straßencafés, schlürften Schokolade mit Sahne, aßen Pfannekuchen und Eis, und die gierigen Dohlen schnappten nach jedem Krümel, der auf die Straße fiel.
Als Wolfgang an dem Tag mit seinen Einkäufen fertig war und auf eine ruhigere Straße abbog, die zum Meer führte, sah er die Frau zum ersten Mal. Sie hatte kurze, dunkelbraune Haare, war Anfang dreißig wie er, schlank, mittelgroß und hübsch. Etwas an ihr beunruhigte ihn jedoch: Sie schleppte eine große schwarze Tasche, eine Art Sack, der viel zu schwer für sie zu sein schien. Es sah nicht wie ein übliches Gepäckstück aus, nicht wie eine volle Einkaufstasche und auch nicht wie Reisegepäck. Wolfgang spürte den Impuls, ihr seine Hilfe anzubieten, aber etwas hielt ihn zurück, und er traute sich nicht. Sie gingen aneinander vorbei, ohne sich direkt anzusehen. Später drehte er sich um und sah die Frau in der grün lackierten Tür eines alten Hauses verschwinden. Eine große schwarzbraune Katze lief aus dem Vorgarten über die Straße und löste sich hinter dem Lindenbaum in Luft auf.
Wolfgang ging zum Hotel, um seine Einkaufstaschen abzulegen, und danach machte er einen Spaziergang durch die Buchenallee am Bach entlang, bis zum Strand. Die meisten Bäume waren dicht mit Efeu bewachsen und sahen aus wie in einem Gruselmärchen. Die Sonne ging unter, und als er den Strand erreichte, näherte sich die goldrote Kugel langsam dem Meeresspiegel. Erst als er schon fast den Saum der Wellen mit seinen Schuhen berührte, wurde ihm deutlich, dass schon eine ganze Weile der Gedanke an die Frau mit der schwarzen Tasche im Hintergrund seiner Empfindungen lauerte.
Dabei wollte er sich gerade mit Frauen überhaupt nicht beschäftigen. Die kürzlich erfolgte Trennung von seiner Freundin war ja der Anlass für seinen Urlaub hier an der See; er wollte weg von dem dumpfen Schmerz und von der Traurigkeit, die als schwarze, klebrige Substanz an ihm haftete und sein Selbstbewusstsein irritierte. Wieso kommen jetzt wieder diese seltsamen Bilder in seinen Kopf? Er setzte sich in den Sand, legte seinen Sonnenhut ab und versuchte, sich ausschließlich auf die Landschaft zu konzentrieren. Ein Strandläufer mit roten Beinen und rotem Schnabel trippelte heran und wollte sich seinen Hut anschauen, wagte aber nicht, ganz nahe zu kommen.
Am Abend wollte und konnte Wolfgang nicht im Hotel bleiben und beschloss, wieder ins Dorf zu gehen. In einer Kneipe bestellte er sich ein Glas Abteibier, den Grimbergen. Und - als ob sich seine unausgesprochene Vorahnung bestätigen sollte - nach einer halben Stunde erschien dort auch die Frau. Sie kam in Begleitung anderer Leute, mit denen sie deutsch sprach, und hatte diesmal keine schwarze Tasche dabei. Wolfgang wendete sich ab und versuchte sich auf die Szenerie hinter dem Fenster zu konzentrieren: das Ende einer Häuserzeile und dahinter ein Feld, über dem ein großer schwarzer Himmel hing. Durch die gedämpften Geräusche in der Kneipe hörte er hin und wieder das Kreischen der Möwen.
Nach einer Weile bemerkte ihn die Frau und schaute diesmal interessiert in seine Richtung. Ihr Gesicht zog Wolfgang an, obwohl er sich stark zusammennahm, um sie nicht dauernd anzuschauen.
Er bezahlte sein Bier und ging wieder zurück ins Hotel. Über ihm standen die Sterne, die er vorher durch die Kneipenfenster nicht hatte sehen können.
Am nächsten Tag entschied sich Wolfgang, über die Meerbrücke zu den anderen Inseln von Zeeland zu fahren, um dem Dorf, in dem er der Frau begegnen konnte, fern zu bleiben. Über die Brücke zog sich eine zweispurige Fahrbahn, und man konnte aus dem Auto zu beiden Seiten weit über das Meer schauen. Auf der rechten Seite war das Wasser aufgewühlt, da es gerade durch die Schleusen unter der Brücke drang, während sich links eine ruhige Meeresfläche ausbreitete. Der Himmel war klar. So viel Blau wirkte fast unnatürlich.
Als er am späten Nachmittag von seinem Ausflug zurückkam, traf er die Frau wieder, diesmal auf der Dorfstraße. Sie grüßte ihn; und ohne zu wissen, wie es passierte, fing Wolfgang mit ihr ein Gespräch an. Auch sie machte hier Urlaub, das Haus gehörte ihren Verwandten; die Katze war fremd.
„Sollen wir einen Kaffee trinken gehen?“ fragte er, und sofort fühlte er sich ein wenig manipuliert, obwohl er selbst den Vorschlag gemacht hatte. Es war eigentlich nichts dagegen einzuwenden, mit ihr ins Café zu gehen, er hatte ja Zeit, und ihre Gesellschaft war ihm nicht unangenehm. Und trotzdem fühlte er sich so, als hätte etwas anderes für ihn entschieden.
Nachdem sie einen Tischplatz draußen vor dem Café gefunden hatten, wo die abendliche Sonne noch ein wenig auf ihre Gesichter scheinen und sie die Straße beobachten konnten, zog die Frau plötzlich ein kleines merkwürdiges Ding aus ihrer Hosentasche. Es war schwarz und sah aus wie eine Puderdose oder ein Maniküretäschchen, war aber auf der Oberseite mit einem Spiegel versehen. Sie öffnete das Ding, und während sie mit Wolfgang plauderte, schaute sie aufmerksam hinein. Danach glättete sie ihre Haare und lächelte ihn an.
Sie redeten gerade über ihre Arbeit – aber seltsamerweise konnte sich Wolfgang später gar nicht mehr erinnern, was sie über ihren Beruf gesagt hatte. War sie Sekretärin bei einem Staatsanwalt oder bei einer Versandfirma? Hatte sie früher Kunst studiert? Er wusste auch nicht mehr, was sie über ihre Hobbies und über ihre Lieblingsbücher erzählt hatte. Irgendwas war da mit Reisen, und dass sie Spiegel sammelte...
Sammelte Spiegel? Wie komme ich darauf? Wolfgang war nicht sicher, ob sie es gesagt hatte oder nicht. Hat er sich das nur eingebildet, weil ihn dieses kleine Ding in ihren Händen so irritiert hatte?
Er wusste auch nicht mehr, wie es dazu gekommen war, dass sie sich für den nächsten Abend wieder verabredet hatten.
Zu dieser Verabredung kam sie diesmal mit dem schwarzen Sack, den sie beim ersten Mal bei sich gehabt hatte, aber er schien jetzt nicht mehr voll und wohl auch nicht schwer zu sein. Wolfgang hielt ihr die Restauranttür auf und fühlte sich dabei etwas unbehaglich. Sie fanden einen Tisch an der Spiegelwand, die den Essraum optisch vergrößerte. Das Gesicht der Frau war blass und seidig, undurchdringlich und schön.
Als sie wieder ihre Puderdose aus dem schwarzen Sack zog und diese öffnete, fragte Wolfgang, ohne nachzudenken: „Schreibst du dir alles auf, was dir die Leute über sich erzählen?“ Sie schaute verwundert. „Nein, wie kommst du darauf?“ Ihre Finger, nicht unähnlich zarten Spinnenbeinen, hielten die Puderdose (oder das Täschchen). Plötzlich erblickte Wolfgang sein eigenes Gesicht in ihrem kleinen Spiegel. Es kam ihm verändert und wie fremd vor, und er bekam Angst. Die Frau schloss das Täschchen (oder die Puderdose) und bestellte ihr Essen.
Der Kellner kam mit einer kleinen Schüssel, in der rötliche Körner, graue Nudeln und fleischfarbene Streifen von Etwas lagen. Als die Frau einen dieser Streifen mit der Gabel zum Mund führte, erinnerte sie Wolfgang an einen Vogel, der gerade im Begriff ist, einen Wurm zu verschlucken.
Doch in schon der nächsten Sekunde leuchtete ihr Gesicht wieder ganz entspannt im warmen Kerzenlicht. Sie saßen noch länger da und tranken Wein.
„Morgen kann ich nicht kommen“, sagte sie beim Abschied. „Ich muss in die Stadt fahren. Wir können uns erst übermorgen wieder treffen.“
Wolfgang lag in der Dunkelheit seines Hotelzimmers und konnte nicht einschlafen. Wieso muss sie jetzt in die Stadt fahren? Trifft sie dort jemanden? Wahrscheinlich geht sie dort auch mit jemandem essen. Dann holt sie wieder ihr schwarzes Täschchen mit dem Spiegel heraus und stellt Fragen. Sie schaut hinein und plaudert, abwesend und konzentriert zugleich. Dann steckt sie das Täschchen mit dem Spiegel in den großen Sack, in dem bereits viele andere solcher Täschchen liegen.
Plötzlich sah er sie vor sich. Ihre großen grünen Augen lächelten im seidigen Gesicht. Er sah, wie sie in ihr kleines Täschchen alles notierte, was er ihr erzählte, und auf einmal wusste er, was es war: ein kleiner Taschencomputer! Alles, was er ihr über sich verraten hatte, hatte sie dort eingespeichert, und noch vieles mehr: seine äußeren Merkmale, seine Vergangenheit, seine unausgesprochenen Gedanken. Vorne trug das Täschchen ja sein Bild: sein gespiegeltes, etwas verändertes Gesicht. In seiner Vision griff Wolfgang schnell in den großen Sack und fand tatsächlich weitere unzählige Taschencomputer, alle mit Spiegeln versehen, die verschiedene Gesichter zeigten.
Die Frau hörte nicht auf zu lächeln, schaute ihn an und schrieb weiter. Er wurde immer schwächer. Seine Kraft schwand dahin, und er hatte das Gefühl, bald ganz in dem schwarzen Sack verschwinden zu müssen.
Schweißgebadet wachte er auf. Es regnete, und die Möwen umkreisten schreiend den Kirchturm. Sie ist in die Stadt gefahren, dachte er und war erleichtert. Morgen wird er nicht zu diesem Treffen gehen. Man packt jetzt und fährt über die Meeresbrücke fort.
(2002)